1. Stammt das von Dir Zitierte von mir, nicht von Nullnullsix, weswegen auch ich mich im Folgenden dazu äussere.Erik hat geschrieben: ↑11. September 2021 11:07Das würde ich so nicht unterschreiben. Für die Einordnung eines Werkes kann es eben doch darauf ankommen, was der Autor meinte und wie unmissverständlich er es ggf. dargestellt hat. Extrembeispiele sind propagandistische Filme aus der Nazi-Zeit ("Jud Süß" war z.B. ganz sicher antisemitisch, gleich was der einzelne Rezipient darüber denkt). Aber es gibt sicherlich auch andere eindeutig rassistische, antisemitische usw. Werke aus heutiger Zeit, wo dies so deutlich hervortritt, dass kein vernünftiger Zweifel daran bleiben kann.Nullnullsix hat geschrieben: ↑10. September 2021 22:16Wie wir immer wieder und zunehmend sehen, kommt es nicht darauf an, ob etwas "rassistisch" ist. Entscheidend ist allein, wie es von dem jeweiligen Rezipient gerade interpretiert wird.
Umgekehrt gibt es sehr wahrscheinlich Werke, die dahingehend zweifellos unverdächtig sind. Ich kann mir z.B. kaum vorstellen, dass etwa Verfilmungen wie "Schindlers Liste" oder "Die Weiße Rose" oder Literatur wie "Der Schimmelreiter" oder Goethes Faust, die Pflichtstoff für viele Schüler sind, als rassistisch, antisemitisch o.ä. eingestuft werden können.
2. "Jud Süss" ist ein denkbar schlechtes Beispiel, handelt es sich doch um einen Propagandafilm der Nazis. Einen solchen auf eine Stufe mit anderen Werken der Kunst zu stellen ist mindestens unfair. Heutige Wahlwerbung der sogenannten "AfD" oder der "NPD" sollte man ja auch vor dem Hintergrund betrachten, dass sie speziell dafür gemacht werden, offene und vor allem heimliche Rassisten anzusprechen...
3. Wer sagt denn, dass nicht in einer dystopischen Zukunft, in denen Nazis oder andere Faschisten über Generationen den Meinungsdiskurs bestimmten, Filme wie "Die weisse Rose" oder "Schindlers Liste" oder andere Werke der Kunst oder Literatur ähnlich betrachtet, verfemt oder sogar vernichtet werden wie heute (vermeintlich) antirassistische, antisemitische oder andere Minderheiten (von denen fast täglich neue aufpoppen) diskreditierende Werke - weil sie nämlich als antifaschistisch und damit als ganz besonders verdammenswert betrachtet, verurteilt und ganz sicher auch vernichtet würden?
Der heutige Zeitgeist ist eben auch nicht in Stein gemeisselt.
4. Die Diskussion hier geht nun vornehmlich um Comics, insbesondere solche, die bereits vor Jahrzehnten entstanden sind und sich bis heute ungebrochener Beliebtheit erfreuen. Und es ist ja wohl unbestritten, dass sich die Einschätzungen, wo eine Grenze zu Rassismus und ähnlichem überschritten wird, in stetigem Wandel befindet. (EDIT: Die Ersetzung der omnipräsenten Zigarette im Mund von Lucky Luke durch einen Grashalm geht ja auf den ausdrücklichen Wunsch des Autors selbst zurück und ist daher als völlig legitimer späterer Eingriff in das Frühwerk einzuordnen. Auch Hergé hat später besonders unzweifelhaft rassistische Passagen entschärft, obgleich noch genügend Beispiele in seinem Werk bis heute erhalten blieben, die es nahelegen, Hergé durchaus rassistisches Gedankengut zu unterstellen.)
Schau Dir TV-Sendungen (keine Fiktion, ganz normale dokumentarische oder politische Sendungen als zeitgeschichtliche Zeugnisse) aus den 50er oder 60er Jahren an - da wurde nicht nur ganz unbefangen und unkritisiert das N-Wort benutzt - da wurde sogar im Studio Kette geraucht. Aber keiner käme auf die Idee, schon wegen deren zeitgeschichtlichem Wert, diese Passagen herauszuschneiden, wenn sie denn noch einmal gezeigt werden sollten (im WDR Fernsehen zB laufen immer wieder solche alten Dokus über das damalige Leben in Westdeutschland).
Da kann es nicht verwundern, dass heutige Rezipienten angesichts derartiger Zustände, die damals keinem auch nur ansatzweise als kritikwürdig erschienen waren, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen... trotzdem sollte man keinesfalls Hand an sie legen, sondern allenfalls editorisch begleiten, allein des Lerneffekts wegen.
Die Chuzpe, mit der sich manch heutige Zeitgenossen aber anmassen, zensorisch in althergebrachte Werke der Kunst und Literatur einzugreifen, hat Züge eines fundamentalistischen und missionarischen Sendungsbewusstseins angenommen, der in seiner Wirkung der Gleichschaltung der Nazis von einst bedenklich nahezukommen droht (Stichwort: "Entartete Kunst").