Michael_S. hat geschrieben: ↑26. Juli 2020 20:10
[...]
Hedonix hat geschrieben: ↑26. Juli 2020 13:24
Ich zitiere mich nochmal selbst:
Es liegt an mir und dir und allen anderen - und da sind auf jeden Fall einige dabei, die den Zusammenhalt lieber sabotieren als ihn zu stärken. Klar kann man sagen, dass der Rest der Gesellschaft da eben stärker sein muss, aber das verlangt eine starke Gesellschaft, und zur Zeit ist unsere Gesellschaft sehr schwach - wirtschaftlich und sozial, nicht erst seit Corona.
Gerade deshalb ist für mich Aufgeben und Pessimismus keine Option. Davon, dass wir sagen "das wird nix" wird die Gesellschaft definitiv nicht stärker. Und es gab schon wirtschaftlich schlechtere Zeiten mit mehr Seuchen und weniger Sozialstaat - und trotzdem leben wir.
Ich habe Verständnis dafür, dass du dich mit deinem Pessimusmus wohler fühlst, aber ich bleibe trotzdem lieber optimistisch.
Ich rede nicht von Aufgeben - der ursprüngliche Zusammenhang war doch der, dass wir ein neues "Wirtschaftswunder" brauchen. Denn um mit diesem Problem fertig zu werden, brauchen wir eine starke Gesellschaft, und eine Wirtschaftskrise schwächt die Gesellschaft. Anstatt sich hinzustellen und davon zu reden, wie wir jetzt alle zusammenhalten sollen usw., müssen wir den Stillstand beenden, der sich schon vor Corona breitgemacht hatte (siehe mein Beispiel mit den Mieten).
@und trotzdem leben wir - ja, tun wir, aber Millionen sind gestorben, und wer überlebte und wer nicht, war reines Glück. Ich habe die Geschichten meiner Großeltern über die 30er und 40er Jahre nicht vergessen (und auch nicht über die 20er als Ursache). Wie Leute "verschwanden", nachdem ein neidischer Nachbar sie angeschwärzt hatte. Wie es im Krieg den Einen erwischte und den Anderen nicht - ohne dass der Eine sich irgendwie anders verhalten hätte als der Andere. Das Selbe ist es doch auch heute überall: Wer im Mittelmeer ertrinkt und wer nicht, ist doch eine Frage von Glück und Pech, genauso wie die Frage, wer im Jemen etwas zu Essen bekommt und wer nicht.
Nichts davon vernichtet die Menscheit, das würden auch der Klimawandel oder ein Atomkrieg nicht schaffen. Aber verdammt viele würden sterben und es wäre reines Glück, wenn ich nicht dazu gehören würde. Da ich mich nicht gerne darauf verlasse, einfach nur Glück zu haben, möchte ich solche Situationen gerne verhindern, wenn ich kann. Und dazu gehört, die Ursachen für Krisen und Konflikte zu bekämpfen, und Armut ist die häufigste Ursache, und die bekämpft man nicht mit "Zusammenhalt", sondern mit Reichtum, und der kommt vom (realen) Wirtschaftswachstum.
Du hast ein paar Seiten weiter vorne gesagt:
Die größere Gefahr als in den tatsächlichen wirtschaftlichen Auswirkungen sehe ich darin, dass es Gruppen gibt, die aus verschiedenen Gründen die Gesellschaft lieber spalten als den Zusammenhalt zu fördern und dass es zudem Menschen gibt, die gesellschaftlichen Zusammenhalt für einen träumerischen Begriff halten und stattdessen lieber "Jeder kämpft für sich selbst" spielen.
Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist kein träumerischer Begriff, sondern eine knallharte Folge verschiedener Faktoren. Die Frage, ob die Mehrheit der Gesellschaft ihn will, ist ebenfalls eine Folge, und zwar von den Lebensumständen dieser Gesellschaft. Deshalb führt es zu nichts, den gesellschaftlichen Zusammenhalt selbst/direkt fördern zu wollen - das muss fruchtlos bleiben, wenn es keine Grundlage dafür gibt. Fördert man hingegen die Grundlage, so kommt der Zusammenhalt automatisch zurück.
Du sagtest:
Aber es liegt an dir und mir und allen anderen, ob es wirklich so passiert.
Ja, aber nicht so, wie du scheinbar denkst, denn es ist egal, ob du und ich und andere sich
vornehmen, jetzt wieder mehr Zusammenhalt leben zu wollen, sondern daran, ob die Mehrzahl der Menschen einen realen, vernünftigen (knallhart messbaren) Grund dafür hat.
Zum Beispiel der Arabische Frühling, der ja seinen Anfang in Tunesien nahm. Ein Mann zündete sich selbst auf offener Straße an und starb. Warum tat er das - weil er verzweifelt war, das System ließ ihm keine Chance. Es war egal, was er tat, am Ende musste er scheitern. Und viele Augenzeugen erkannten, dass sie in der gleichen Lage waren - wozu eine Gesellschaft erhalten, die einen langsam erwürgt? Da konnte man genauso gut auch sein Leben riskieren in dem Versuch, diese Gesellschaft gewaltsam zu verändern. Wenn wir zu viele Leuten keine Möglichkeiten mehr geben, wird es auch bei uns dahin kommen. Dieser Tag ist natürlich noch fern, aber die Entwicklungen der letzten ca. 10 Jahre gehen jedenfalls alle in diese Richtung und Corona beschleunigt sie noch. Es ist immer noch lange nicht so weit, aber so langsam muss mal was getan werden, und das ist nicht "Zusammenhalt beschwören" (was für eine hilflose Geste!), sondern den realen Wohlstand vergrößern. Die Menschen - auch und gerade die einfachen, weniger gebildeten aus der Unterschicht - müssen realistische Möglichkeiten haben, ihr Leben zu verbessern. Stattdessen wird ihr Leben derzeit schlechter. Wenn wir dieses Problem nicht lösen, werden wir Probleme eines ganz anderen Kalibers bekommen als die Corona-Pandemie, die im schlimmsten Fall (Hochrechnung im März für Deutschland) 1,2 Mio Menschen tötet. Das könnten auch locker 10x so viele werden, wenn wir wegen Corona alles abwürgen und dann die - gesellschaftlichen - Folgen dieses Abwürgens tragen müssen.
Und deshalb stimme ich dir nicht zu - die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sind die schlimmsten Folgen, denn die gesellschaftlichen Folgen resultieren direkt aus den wirtschaftlichen, und die potentiellen Opferzahlen sind viel höher als durch die Pandemie selbst. Und deshalb bin ich pessimistisch, weil erhebliche Teile der Welt nichts besseres wissen als einen Lockdown - die Folgen sind ja nicht nur bei uns, sondern in zig Ländern spürbar, und dort teils noch viel heftiger als bei uns, weil die Länder schon vorher ärmer waren oder keine so ausgebauten Sozialsysteme haben. Was nutzt es uns, wenn wir selbst halbwegs gut durchkommen und dafür 20 andere Staaten kollabieren (im Sinn von "radikale Regime errichten"), die dann uns (oder unseren Handel als Grundlage unseres Wohlstandes) bedrohen? Deshalb macht mir der weltweite Lockdown so viel Sorgen, und deshalb bin ich derzeit seeehr pessimistisch im Hinblick auf die Zukunft. Nicht weil mir das Spaß macht oder ich mich gerne in einer Opferrolle suhle, sondern weil hier sehenden Auges ein kapitaler Fehler gegangen wird. Die Pandemie, so schlimm sie ist, ist trotzdem weniger schlimm als ihre Bekämpfung und die einzige Antwort darauf ist ein "wir müssen wieder mehr zusammenhalten"? DAS verstärkt meinen Pessimismus nur noch, denn es heißt übersetzt "wir haben keine Ahnung, was wir tun sollen". Also wird nichts getan, also wird es schlimmer.