da nicht nur hier, sondern auch in der öffentlichen Diskussion immer viel auf die Grundrechte Bezug genommen wird, sind an dieser Stelle vielleicht ein paar Erläuterungen zum Verfassungsrecht angebracht.
Grundrechtsverpflichtet ist unmittelbar nur der deutsche Staat, nicht der einzelne Bürger, nicht Firmen und auch nicht ausländische Hoheitsträger. Der Ansatz, dass jemand, der dieses oder jenes tut, damit gegen das Grundrecht eines anderen oder vieler anderer verstößt, ist so nicht zutreffend. Denn die Grundrechte binden und verpflichten aus sich selbst heraus nur den Staat.Iwan hat geschrieben: ↑10. Mai 2020 13:00Artikel 2, Absatz 1 des Grundgesetzes: (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
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Aber wenn er den Erreger bereits in sich trägt und dann ihm bekannte Senioren trifft, die er ansteckt, nimmt er ihnen dann nicht diese Freiheit?
Ein Mann wird ja offenbar in Deutschland vor Gericht gestellt, weil er vor einer Operation dem Krankenhauspersonal verschwiegen hat, infiziert zu sein.
Wenn jemand wegen eines Verhaltens vor das (Straf-)Gericht gestellt wird, dann geschieht das nicht, weil er ein Grundrecht gebrochen hat, sondern weil er gegen ein Strafgesetz verstoßen haben soll. Wird jemandem eine Geldbuße auferlegt, geschieht das, weil er gegen eine Ordnungswidrigkeitenbestimmung verstoßen haben soll.
Und in der Tat kann es als Körperverletzung oder auch (versuchter) Totschlag zu bewerten und damit strafbar sein, jemand anderen vorsätzlich mit einer schweren Krankheit zu infizieren. Die Fälle, an denen diese Rechtsprechung entwickelt worden ist, betreffen die Weitergabe von HIV über ungeschützten Geschlechtsverkehr in Kenntnis der eigenen Infektion. Damit nimmt man in der Regel billigend in Kauf, dass der andere Sexualpartner (wenn er nicht auch erkrankt ist) sich ansteckt. Und dieses billigend in Kauf Nehmen genügt für einen bedingten Vorsatz.
Sicherlich kann man diese Rechtsprechung nicht auf jede Erkältung übertragen. Auf die Riskierung, jemand anderen mit einer schweren Lungenentzündung wie SARS-Cov2 anzustecken aber vielleicht schon. Das werden letztlich die Gerichte entscheiden müssen.
Aus den Grundrechten ist der Staat allerdings verpflichtet, nicht nur nicht gerechtfertigte Eingriffe in diese zu unterlassen, sondern auch, die Grundrechte aktiv zu schützen, d.h. dafür Sorge zu tragen, dass sie effektiv ausgeübt und durch außerstaatliche Umstände nicht zu stark eingeschränkt werden. Das sind die sogenannten Schutzpflichten. So muss der Staat z.B. die Tötung eines Menschen durch Gesetz unter Strafe stellen, um die Menschen möglichst davon abzuhalten, einander zu töten. Insofern ist die Existenz der §§ 211, 212 StGB (Strafbarkeit von Mord und Totschlag) auch Ausfluss der staatlichen Schutzpflicht für das Recht auf Leben.
Nun ist es natürlich so, dass nahezu jede Bestimmung des Staates, die das eine Grundrecht schützen soll, in ein anderes Grundrecht eingreift. Das Verbot, andere Menschen zu töten stellt einen Eingriff in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit - die auch als allgemeine Handlungsfreiheit bezeichnet wird - dar. Dieser Eingriff ist aber natürlich gerechtfertigt.
So eindeutig, wie das hier ist, so kompliziert und grenzwertig kann das in anderen Fällen sein. Im Einzelfall bedarf es zur Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffes zunächst einer (geschriebenen oder ungeschriebenen) Grundrechtsschranke, die die Einschränkung erlaubt. Die gibt es in fast allen Grundrechten. Sodann muss eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorgenommen werden, bei der die Grundrechte so gegeneinander austariert werden, dass insgesamt der größtmögliche Schutz aller betroffenen Grundrechte (das, in das eingegriffen wird und das, das durch den Eingriff geschützt werden soll) übrig bleibt und möglichst der Kernbereich keines Grundrechtes verletzt wird.
Was bedeutet das nun hier?
Die Einschränkungen, die durch die Corona-Verordnungen vorgenommen werden und letztlich auf dem Infektionsschutzgesetz beruhen, greifen in vielfältige Grundrechte ein, teilweise in spezielle Grundrechte, wie z.B. das Recht auf Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 GG), im übrigen jedenfalls in das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (= allgemeine Handlungsfreiheit) (Art. 2 Abs. 1 GG). Letzteres ist z.B. sehr intensiv betroffen, wenn es ein Verbot gibt, die eigene Wohnung ohne triftigen Grund zu verlassen.
Nehmen wir die zumeist betroffene allgemeine Handlungsfreiheit, dann ist sie sehr weit gefasst. Die Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts trägt den Titel "Reiten im Walde" und besagt, dass auch das Reiten im Walde teil der freien Entfaltung der Persönlichkeit und damit grundrechtlich geschützt ist. Weil das Grundrecht so weit gefasst ist, ist es auch weitgehend einschränkbar. Es unterliegt der sogenannten Schranken-Trias (Rechte anderer, verfassungsmäßige Ordnung, Sittengesetz). Relevant ist hier eigentlich im Kern nur die verfassungsmäßige Ordnung (die auch die Rechte anderer wieder normiert und durch die herrschenden Sittlichkeitsvorstellungen geprägt ist). Das ist im Grunde die Gesamtheit der Gesetze. Mit anderen Worten: Im Grundsatz kann das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit durch jedes einfache Gesetz eingeschränkt werden. Die Einschränkung muss nur im Einzelfall verhältnismäßig sein.
Mit den Corona-Schutzverordnungen will der Staat die Volksgesundheit bewahren, das heißt das Recht auf körperliche Unversehrtheit und letztlich auch das Recht auf Leben schützen. Diese beiden Grundrechte finden sich in Art. 2 Abs. 2 GG, der lautet: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden."
Dazu muss man sagen, dass das Recht auf Leben in unserer Verfasungsrechtsordnung einen Höchstwert genießt. Das ergibt sich, wie man unschwer erkennt, nicht unmittelbar aus dem Text des Art. 2 Abs. 2 GG, denn der gestattet ja in Satz 3 die Einschränkung auch des Rechts auf Leben "auf Grund eines Gesetzes". Das Bundesverfassungsgericht hat aber einen weitgehend absoluten Lebensschutz aus dem Grundgesetz herausgearbeitet, der eine Abwägung mit dem Recht auf Leben Einzelner weitgehend unmöglich macht. Eingriffe in das Recht auf Leben sind kaum je zulässig (der sogenannte "finale Rettungsschuss" bei einer Geiselbefreiung ist eine vieldiskutierte Ausnahme).
Bei der Ausübung der staatlichen Schutzpflicht für das Recht auf Leben ist aber eine Abwägung möglich und nötig, bei der das konkrete Maß der Gefahr sicher eine Rolle spielen muss. Dabei hat das Recht auf Leben natürlich einen sehr hohen Stellenwert. Man kann es - nach der Menschenwürde, die (nahezu) absoluten Schutz genießt - wohl als das zweithöchste Verfassungsgut ansehen. Das rechtfertigt sicher nicht jede Maßnahme, macht aber die Rechtfertigung auch solcher Maßnahmen erst möglich, die zum Schutze anderer Rechtsgüter undenkbar wären.
Diese Verhältnismäßigkeitsprüfung zwischen dem Schutz des Rechts auf Leben und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit durch Maßnahmen zum Schutz der Volksgesundheit einerseits und den Eingriffen in diverse Grundrechte aller (allgemein Handlungsfreiheit, Berufsausübungsfreiheit, Versammlungsfreiheit u.a.m.) andererseits sind der Rahmen, in dem sich die ganze Diskussion um Beschränkungen und Lockerungen von Corona-Eindämmungsmaßnahmen abspielt.
Wenn ich Herrn Schäuble richtig verstanden habe, dann hat er lediglich auf die Tatsache hingewiesen, dass es die oben beschriebene Abwägung gibt und geben muss, das heißt auch der Schutz der Volksgesunheit, zu dem der Infektionsschutz gehört, nicht absolut sein kann.
Wäre der Lebensschutz als staatliche Schutzpflicht absolut, dann müsste der Staat gehalten sein, den motorisierten Straßenverkehr zu verbieten. Es gibt in Deutschland noch immer über 3.000 Verkehrstote im Jahr. Diesen Umstand nimmt der Staat hin. Würde der motorisierte Verkehr verboten werden, würden diese Leben jedenfalls in der großen Mehrzahl gerettet - und wir bald wieder wie im 19. Jahrhundert leben.
An der echten Influenza sterben jährlich ebenfalls mehrere tausend Menschen in Deutschland (teilweise sogar mehrere zehntausend, aber das ist die große Ausnahme). Würden wir dauerhaft im "Lockdown" leben, würde die Ausbreitung der Grippe stark verringert und die meisten dieser Menschen gerettet werden. Ich meine, es war Herr Drosten, von dem ich kürzlich im Fernsehen gehört habe, dass die jüngste Grippewelle durch die Corona-Eindämmungsmaßnahmen abrupt nahezu vollständig zum Erliegen gekommen ist.
Hieran sehen wir, dass es natürlich nicht so sein kann, dass der Staat keinerlei Risiken für das Leben seiner Einwohner zulassen darf und den bestmöglichen Schutz um jeden Preis gewährleisten muss. Es ist alles eine Frage der Verhältnismäßigkeit.
Und da spielt es natürlich eine Rolle, dass das Coronavirus sehr viel infektiöser ist als die gewöhnliche Grippe - anders wäre der exponentielle Anstieg der Fallzahlen nicht zu erklären. Ebenso spielt es eine Rolle, dass die Erkrankung, also SARS-Cov2, viel schwerer ist als eine Influenza (auch wenn man an der natürlich auch sterben kann). Es gibt mehr schwere Verläufe mit längerer Behandlungsdauer und höherer Sterblichkeit. Und schließlich spielt es eine Rolle, dass es keinen Impfstoff gegen das Coronavirus gibt, mit dem man - wie bei der Grippe - das jeweils individuelle Erkrankungsrisiko deutlich reduzieren kann.
Insofern sind die Äußerungen von Herrn Schäuble, so wie ich sie verstanden habe, durchaus zutreffend und alles andere als skandalös.
Was Herr Palmer gesagt - und unterdessen zurückgenommen - hat, ist hingegen verfassungsrechtlich deswegen ein Problem, weil es als eine Unterscheidung der Wertigkeit - nämlich der Schutzwürdigkeit - von Menschenleben verstanden werden kann (derjenige, der noch länger zu leben hat, sei "wertvoller", nämlich schutzwürdiger als derjenige, der nur noch ein halbes Jahr zu leben hat). Eine solche Sichtweise ist für den Staat als Adressaten der Grundrechte unzulässig, weil ein Verstoß gegen die Menschenwürde. Das hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz (Verbot des Abschusses von entführten Passagiermaschinen) nochmals sehr deutlich gemacht.
Gruß
Erik