Nun ja, die Todesrate ist wegen Corona schon sehr deutlich angestiegen, ganz aktuell hier belegt:
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/ ... ket-newtab
Fazit: Bislang starben in Europa etwa 100.000 Menschen mehr als gewöhnlich und auch deutlich mehr als während einer starken Grippewelle (die von vor ein paar Jahren ist zum Vergleich auch mit drin). Die meisten davon sind Senioren, auch das ist klar belegt.
Schon Mitte März erklärte der anerkannte Experte Drosten hier
https://www.focus.de/gesundheit/news/pa ... 23764.html [Anm.: es geht hier nur um Deutschland]:
"Bei einer Mortalität von 0,5 Prozent wäre in dem Fall mit 278.000 Corona-Todesopfern zu rechnen" und
" "Bei langsamer Verbreitung werden Corona-Opfer in der normalen Todesrate verschwinden." Jedes Jahr würden in Deutschland 850.000 Menschen sterben. Das Altersprofil sei ähnlich wie bei den Todesfällen durch das neue Virus." Diese Zahl steht und fällt natürlich mit der Mortalität von 0,5%. Dazu gibt es als ersten Versuch, die Zahl nicht nur schätzen zu müssen, die Heinsberg-Studie, die besagt: "
„Mit unseren Daten kann nun zum ersten Mal sehr gut geschätzt werden, wie viele Menschen nach einem Ausbruchsereignis infiziert wurden. In unserer Studie waren das 15 Prozent für die Gemeinde Gangelt. Mit der Gesamtzahl aller Infizierter kann die Infektionssterblichkeit (IFR) bestimmt werden. Sie liegt für SARS-CoV-2 für den Ausbruch in der Gemeinde Gangelt bei 0,37 Prozent“, sagt Studienleiter Prof. Dr. Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn." (Quelle:
https://www.uni-bonn.de/neues/111-2020), womit Drostens Schätzung sogar etwas höher liegt, aber insgesamt wohl recht treffend war.
Was sagen diese beiden Zahlen? Die 2. Zahl sagt, dass es möglich ist, die Zahl der Coronatoten so zu kontrollieren, dass sie sozusagen nicht mehr in der Statistik auffällt. Die 1. Zahl sagt, dass diese Möglichkeit nicht ausgeschöpft wurde - 100.000 Tote mehr fallen in der Statistik sehr deutlich auf!
Was die zweite Zahl nicht sagt, ist, dass man jeden vor Corona retten könnte - allein in Deutschland werden über 250.000 Menschen daran sterben und keine Maßnahme der Welt kann das verhindern. Diese zweite Zahl sagt aber auch, dass diese Menschen sowieso in dieser Zeit gestorben wären (sonst würde ihre Zahl ja nicht in der Statistik verschwinden). Oder anders gesagt: Leute, die kurz vorm Sterben stehen, können wir nicht retten, egal ob mit oder ohne Corona. Andere Leute aber können wir schon retten. Und die erste Zahl sagt, dass das - europaweit - nicht in dem Maß geschehen ist, in dem es möglich gewesen wäre.
Und jetzt, mit diesen Fakten im Hinterkopf, schaue ich mal die Frage nach Lockerungen an:
1. In Deutschland ist die Todesrate unter Kontrolle, wir haben sogar Überkapazitäten in den Intensvistationen. Die sind bei einem Ausbruch ganz schnell weg, keine Frage, aber das zeigt auch, dass es möglich ist, ein bisschen zu lockern - das kann unser Gesundheitssystem noch tragen. Natürlich muss man aufpassen, dass das nicht zu viel wird. Ich denke, dieser Spielraum ist inzwischen aber schon ausgereizt, vielleicht sogar schon überreizt, denn so groß war er ja auch nicht. Trotzdem - ein bisschen in diese Richtung kann/konnte man gehen, ohne die Todesrate zu gefährden. Die ganz harten Maßnahmen vom Anfang mussten also nicht überall durchgehalten werden, dazu bestand kein Anlass. Übrigens an dieser Stelle noch nachträglich ein Kommentar von mir:
WeissNix hat geschrieben: ↑6. Mai 2020 17:54
Hedonix hat geschrieben: ↑6. Mai 2020 16:34
Aber, um mal beim Raucherbeispiel zu bleiben, niemandem wird im Namen des Nichtraucherschutzes verboten, einen Freund zu sich nach Hause in die eigene Wohnung einzuladen und dort zu rauchen, oder sich im Stadtpark zu treffen und dort zu rauchen.
Und genau das war und ist ja auch wegen Corona nicht verboten ("
einen Freund"!) - es wird nur dringend empfohlen, sich diesbezüglich einzuschränken. [...]
>>> Das hängt ganz davon ab, WO in Deutschland du die letzten Wochen verbracht hast. Bei mir zu Hause war das verboten! Und dieses Verbot war übertrieben, wie man an den Zahlen sieht, und deshalb ist es richtig, dass es fällt.
2. Bis jetzt habe ich nur von Lockerungen gesprochen, die möglich sind, ohne die aktuelle Todesrate zu gefährden. Jetzt komme ich zum zweiten Schritt: Noch mehr lockern und damit dann eben doch ein Ansteigen der Todesrate in Kauf nehmen (also den Tod von Leuten, die sonst nicht gestorben wären). Das ist denke ich der wirklich springende Punkt hier, oder nicht? Daran hat sich doch die ganze Diskussion entzündet.
Da kommt von der einen Seite das Argument "Hier geht es um Menschenleben, die sind unbedingt zu schützen" und die andere Seite sagt "Menschenleben sind zwar wichtig, aber auch andere Dinge sind wichtig und der Schutz, wie wir ihn derzeit haben, macht bei diesen anderen Dingen zu viel Schaden".
Offensichtlich haben wir hier zwei unterschiedliche Wertesysteme. Manchen ist die Gesundheit das Wichtigste, anderen die Freiheit oder der Wohlstand oder einfach der Spaß. Und wenn diese beiden Gruppen jetzt aufeinander treffen, kommt man mit rationalen Argumenten nicht mehr weiter. Ich glaube nicht, dass hier irgendjemand ist, der "zu blöd" wäre, um die Faktenlage, so wie ich sie oben ja nochmal zusammengefasst habe, zu begreifen. Aber die Leute haben eben unterschiedliche Schwerpunkte und das dürfen sie auch, das betone ich ganz ausdrücklich!
Die Frage ist, was wir damit jetzt anfangen. In einer Demokratie muss man sich einigen, und da gibt es zwei Regeln: Einmal die Mehrheit und einmal die Grundrechte (die auch von der Mehrheit nicht abgeschafft werden dürfen, aus gutem Grund, wie ein Blick in die Geschichte zeigt).
Es muss also gefragt werden, was die Mehrheit will, und das wird bei uns zu wenig gefragt. Es wurde nicht gefragt, als man den Lockdown beschlossen hat, und es wurde nicht gefragt, als man jetzt die Lockerungen beschließt. Wofür haben wir denn gewählte Volksvertreter? Wieso stimmen die nicht darüber ab, wenigstens nachträglich und v.a. regelmäßig?
Und es muss geprüft werden, was rechtlich möglich ist, und da haben wir mit dem Notstandsrecht ja sehr große Möglichkeiten der Regierung, aber auch hier zeigt sich, dass die Regierungen diese teilweise arg überstrapaziert haben. In manchen Bundesländern haben Gerichte bereits gesagt, dass dieses und jenes zu weit geht.
Das sind die beiden Grenzen, die eingehalten werden müssen, und meine Kritik richtet sich dagegen, dass beide überschritten wurden und werden.
Und mit welcher Begründung werden sie überschritten? Mit einer moralischen, nämlich dass "der Schutz des Lebens absoluten Vorrang hat". Wie oben dargelegt ist das wohl nicht für alle Deutschen so, aber selbst wenn (gerade wenn) eine Mehrheit es so sehen würde, stünde doch eine Befragung der Parlamente nichts im Wege, oder? Das würde den Maßnahmen die nötige Legitimation geben und viel von diesem Streit hätte sich erledigt.
Meine Sorge geht aber weiter - wenn wir erlauben, dass eine moralische Begründung die beiden Grenzen (Mehrheit und Grundrechte) einfach so außer Kraft setzt, dann sind weiteren zukünftigen moralisch motivierten Außerkraftsetzungen dieser Regeln Tür und Tor geöffnet. Um mal bewusst ein krasses Beispiel zu bringen: Die Nazis waren auch der Meinung, dass es eine "gute Tat" sei, die Juden umzubringen. Wenn also alles nur noch davon abhängt, ob etwas moralisch gutgeheißen wird (Von wem denn überhaupt? Einer Mehrheit? Experten? Der Regierung?) und nicht mehr, ob es demokratisch legitimiert und rechtens ist, dann werden die Opferzahlen ganz schnell viel höher werden, als jede Corona-Seuche sie erzeugen würde.
Und deshalb bin ich persönlich gegen jede Maßnahme, die eine dieser beiden Grenzen einreißt, und kein noch so moralisches Argument überzeugt mich da vom Gegenteil, weil vor so einer Zukunft ganz einfach mehr Angst habe als vor einer Coronaerkrankung. Und es ärgert mich, wenn ich deswegen als Idiot oder Egoist hingestellt werde, denn beides trifft nunmal nicht zu. Und ich finde, auch diejenigen, die der Meinung sind, dass der Schutz des Lebens und der Gesundheit über allem stehen muss, müssen sich an die Regeln halten und dürfen die beiden Grenzen, die ich nannte, nicht überschreiten, auch wenn man damit - vielleicht - noch ein paar mehr Leute retten könnte. Aber auch wenn man innerhalb dieser Grenzen bleibt, kann man schon ganz viele retten, und das sollte man tun, keine Frage. Und mehr geht eben nicht - was dann noch übrig bleibt, sind die oben genannten Toten aus Punkt 2, die man theoretisch verhindern könnte, aber nicht sollte. Und das hat nichts mit Gier, Dummheit oder Egoismus zu tun. Meine Motive muss man nicht teilen, aber mir eines der genannten zu unterstellen verbitte ich mir, und meine Meinung als gleichberechtigter Bürger einfach unter den Teppich zu kehren, weil sie den eigenen Wert- und Moralvorstellungen nicht ganz entspricht, verbitte ich mir auch.